Autofahren wird heilbar

Autofahren wird heilbar

Mobil ohne Auto

Die Stadt Oslo erklärt soeben: “Die Stadtregierung hat sich zum Ziel gesetzt, dass das Stadtzentrum bis 2019 autofrei wird.”

Die radikalste Verkehrswende findet zurzeit in Skandinavien statt. Norwegens Hauptstadt will Umwelthauptstadt Europas werden und bis 2020 seine Schadstoffemissionen um 50 % senken.

Lärm, Staus, Verkehrstote und Schadstoffbelastungen werden zu immer größeren Belastungen in allen Metropolen der Welt. Seit 1945 sind weltweit über 110 Millionen Menschen im Straßenverkehr getötet worden – doppelt so viele Tote wie im Zweiten Weltkrieg.

Diesen Massenmord auf den Straßen werden die Menschen bald nicht mehr mitmachen. Global wird immer deutlicher, dass mit dem heutigen Benzinauto die Verkehrsprobleme des 21. Jahrhunderts nicht lösbar sind.

Immer mehr Menschen ziehen in die Städte. Dort wollen sie eine bessere Luft, mehr Sicherheit und eine grüne Umgebung für sich und ihre Kinder.

In Finnlands Hauptstadt Helsinki wird an Plänen gearbeitet, wonach jeder Mensch künftig ohne Auto jeden Punkt der Stadt mit Bus, Bahn, Fahrrad oder Elektro-Leihauto erreichen kann.

In Stockholm kostet eine Fahrt in die Innenstadt seit Januar 2016 zwölf Euro hinein und zwölf Euro hinaus. Autofahren wird nicht verboten, aber viel teurer und damit überflüssig.

In Kopenhagen reduziert die Stadt Jahr für Jahr ihre Parkplätze, baut Fahrradwege und fördert den öffentlichen Verkehr. BMW betreibt in Dänemarks Hauptstadt bereits 400 Elektro-Leihautos. Es gibt über 600 Ladestellen. In Norwegen fährt bereits jeder zweite Neuwagen elektrisch. Der Staat gibt für jedes neu gekaufte E-Auto 13.000 Euro dazu.

Paris erklärt in diesen Tagen das Seine-Ufer zur Fußgängerzone – ausgerechnet zur Eröffnung des Pariser Autosalons.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) publiziert soeben, dass Benzinautos der entscheidende Faktor dafür sind, dass global jedes Jahr sechs Millionen Menschen an Luftverschmutzung sterben. Beinahe so viele wie Kriegstote jedes Jahr im Zweiten Weltkrieg.

Hinzu kommen immer höhere finanzielle Belastungen durch die Automobilität. In Tokio kann ein Parkplatz monatlich schon 400 Euro kosten. Ohne Parkplatz gibt es gar keine Zulassung mehr. In Japans Hauptstadt besitzen nur noch 18% der Einwohner ein Auto. Tendenz zurückgehend.

95% des gesamten Verkehrs sind öffentlicher Verkehr – komplett elektrisch. Das Smartphone ist für junge Japaner längst wichtiger als ein Auto. S-Bahnen und U-Bahnen fahren im Drei-Minutentakt. Die weltweite Verkehrsrevolution ist nicht mehr aufzuhalten, auch wenn die deutschen Autobauer darauf noch kaum vorbereitet sind.

Mobilität der Zukunft geht so: Weniger Benzinautos, mehr Elektroautos, mehr Elektro-Fahrräder und weit mehr öffentlicher Verkehr – elektrisch natürlich. Die Zukunft gehört der Elektromobilität.

Source : http://www.heise.de/tp/artikel/48/48626/1.html

Von Franz Alt in TELEPOLIS > Politik

Arbeitet man am besten im eigenen Büro oder gleich Zuhause?

Arbeitet man am besten im eigenen Büro oder gleich Zuhause?

Nach einer Studie verschlechtern Großraumbüros, Hot Desking, Coworking Spaces oder Smart Workspaces die Kommunikation, die Kooperation und die Beziehungen und fördern den Rückzug

Großraumbüros werden als Alternativen zu den kleinen Zellenbüros seit Jahrzehnten gebaut und genutzt. Sie sollen, wie ihre flexibilisierende Weiterentwicklung durch Hot oder Desk Sharing, nicht nur für bessere Überwachung, Effizienz und sinkende Kosten sorgen, sondern überdies die Kommunikation der Mitarbeiter fördern. Die kommen einander nicht aus, können sich nicht zurückziehen, daher kämen sie gar nicht umhin, einander zu begegnen, was Kontakte, Zusammenarbeit und letztlich daraus entstehende Innovationen oder Verbesserungen begünstigen soll.

Das ist natürlich naiv gedacht, wird aber auch zunehmend von den großen Konzernen, die sich neue Hauptgebäude bauen wie Apple, Facebook oder Google, umgesetzt. Je dichter man Menschen packt, so letztlich die These, desto besser soll das Zusammenleben und -arbeiten stattfinden. Denn nur im Team, das eher einem Schwarm gleicht, soll in Zeiten der mobilen Internetnutzung und Kommunikation noch gearbeitet werden. Unbeabsichtigte Begegnungen führen zu neuen Ideen, heißt es, der Rückzug in die Zelle, gar in einem Raum mit nur einem Arbeitsplatz ist des Teufels und nur den obersten Chefs vorbehalten, die sich dann doch gerne der Offenheit und Getümmel nicht nur für Besprechungen entziehen.

In München hat Microsoft Deutschland gerade die neue Zentrale in Schwabing bezogen und schwärmt von der dort umgesetzten “Neuen Idee des Arbeitens” und der Innovationskultur. Die Mitarbeiter können angeblich frei entscheiden, ob sie im Home Office, unterwegs oder in der Zentrale arbeiten wollen. Dort haben sie keinen festen Arbeitsplatz, was die Flexibilität und Innovationsbereitschaft fördern soll.

Sabine Bendiek, Vorsitzende der Geschäftsführung von Microsoft Deutschland, ist begeistert und ergeht sich in den Buzzwords: “Die digitalisierte Welt stellt neue Anforderungen an die Lösungskompetenz von Mitarbeitern. Viele Aufgaben sind inzwischen so komplex, dass sie nur in Teams gelöst werden können. Mit der neuen Arbeitsumgebung lösen wir räumliche Trennungen auf und fördern die Zusammenarbeit auch über Abteilungs- und Hierarchiegrenzen hinweg. Innovation entsteht, wenn Menschen diskutieren, ihr Wissen teilen und gemeinschaftlich an Lösungen arbeiten können. Unser Smart Workspace Konzept bietet uns Raum für diese Kultur.” Weil mittlerweile alles smart ist, wurde denn auch ein “Smart Workspace” geschaffen. Richtig neu ist nicht, wenn man die “starre, einheitliche Arbeitsplatzbindung auflöst und auf neue, offene Bürostrukturen setzt, die auf unterschiedliche Arbeitsanforderungen ausgerichtet sind und flexibel genutzt werden können”. Immerhin gibt es Nischen, in die man sich auch mal alleine zurückziehen kann: den “Think Space für hochkonzentrierte Alleinarbeit”.

Nach einer Studie der australischen Wissenschaftler Rachel L. Morrison und Keith Macky von der School of Business and Law an der Auckland University of Technology ist der Hype um die offenen Räume für flexible Angestellte, die sich nur temporär im Unternehmen niederlassen sollen und ansonsten in der Schwebe bleiben, nicht ganz nachvollziehbar. Die Arbeit in Großraumbüros ist sicherlich noch stressiger, weil hier die Mitarbeiter zwar einen festen Arbeitsplatz haben, aber sich nicht von der Umgebung und den anderen abschirmen können. Dafür können sie allerdings ihren kleinen, wenn auch einsehbaren Raum “personalisieren”.

Für ihre Studie führten die Wissenschaftler eine Umfrage unter tausend festangestellten Australiern durch, die in Büros gearbeitet haben und gefragt wurden, ob sie gemeinsam im Büro mit anderen gearbeitet haben, welche Freundschaften sie mit den Mitarbeitern geschlossen, welche Unterstützung durch Vorgesetzte sie erhalten und welche negativen Beziehungen sie erlebt haben. Damit suchten sie die Belastungen herauszufinden, die nach dem Modell der Employee Social Liabilities (ESL) in die vier Hauptkategorien fallen: Ablenkung, negative Beziehungen, unkooperative Verhaltensweisen und Misstrauen. Und sie wollten erfassen, ob die angepriesenen Vorzüge von gemeinsamen (shared) Arbeitsräumen, nämlich bessere Beziehungen und mehr Unterstützung durch Vorgesetzte, in Wirklichkeit stattfinden.

Das Ergebnis, wenn allgemein zutreffend, ist für das Konzept des “Smart Workplace” desillusionierend, was wenig verwunderlich ist, denn eingeführt wird es vor allem aus Kostengründen und Überlegungen, den Arbeitsraum so zu gestalten, dass er die Arbeitsleistung optimiert. Die Angestellten scheinen diese offenen Räume und flexiblen Strukturen nicht als angenehm zu erleben. Berichtet wird eine Verstärkung der Ablenkungen, des Misstrauens, von negativen Beziehungen und Nichtbereitschaft zur Kooperation. Freundschaftliche Beziehungen und das Verhältnis zu Vorgesetzten verschlechtern sich: “Freundschaften zwischen den Mitarbeitern haben die schlechteste Qualität bei Hot Desking und offenen Räumen verglichen mit den Angestellten, die ihre eigenen Büros haben oder ihren Raum nur mit ein oder zwei Kollegen teilen.”

Die Wissenschaftler vermuten, dass Großraumbüros Konkurrenzstrategien wie Rückzug und geringere Bereitschaft zur Teamarbeit fördern. Das wäre auch nicht sehr verwunderlich, wenn man auch sonst dauernd im Team arbeiten muss, ohne sich in seinen “eigenen” Raum zurückziehen zu können – und unter Bedingungen der faktischen Konkurrenz, was die Kooperationsbereitschaft nur bedingt fördern dürfte, da der andere auch der Gegner ist, was ist die individuellen Karriereaussichten betrifft. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Angestellten in Großraumbüros misstrauischer werden und sich im offenen Raum stärker zurückziehen, wodurch sich die Beziehungen zu den Kollegen und Vorgesetzten verschlechtern. Auch andere Studien zeigen, dass in Großraumbüros oder Hot-Desking-Räumen die Kooperation schlechter wird, während sich der Informationsfluss nicht verbessert.

Eigenes Büro oder Telearbeit

Nach der australischen Studie wäre es für die Angestellten, die sie befragt haben, am besten, wenn sie ihr eigenes Büro haben, einen Raum mit einem oder zwei Kollegen teilen oder gleich Zuhause telearbeiten. In Großraumbüros versuchen die Angestellten, sich vom Lärm, der Beobachtung und der Ablenkung durch Stellwände, Bücherregale, Pflanzenwände oder Kopfhörer abzugrenzen und einen gewissen persönlichen Platz zu gestalten, wenn dies denn gestattet ist. Bei Hot Desking ist das per se unterbunden.

Die Wissenschaftler schlagen vorsichtig vor, das Teilen des Raums nicht zu übertreiben und Rückzugsmöglichkeiten zu ermöglichen. Vermutlich müsste eine gewisse Personalisierung des Arbeitsplatzes auch ermöglicht werden, schließlich ist oft der virtuelle Arbeitsraum auch völlig unpersönlich: “Ohne räumliche Privatsphäre oder Distanz versuchen wir vielleicht”, so die Wissenschaftler, ” selbst Distanz zu erzeugen.” Allerdings sei eine “kritische Dichte spontaner Interaktion” notwendig. Die verlangt allerdings kein Hot Desking oder ein Großraumbüro, sondern gemeinsame Räume, in denen man gerne einmal Kollegen begegnet. Allerdings könnte Telearbeit einen Ausweg darstellen, wenn die Angestellten nur gelegentlich zu bestimmten Zwecken in die Büros kommen und ansonsten ihre eigenen personalisierten Räume nutzen. Hot Desking oder Smart Workplace würden demnach als Beschleuniger für die Tele- oder Heimarbeit fungieren.

Neu ist das alles nicht. Ganz ohne empirische Studien und den Hype von “shared offices” wies etwa Immanuel Kant auf die “ungesellige Geselligkeit” hin, also auf die Einhaltung eines notwendigen räumlichen Abstands für erträgliche Beziehungen, der nicht nur bei der Massenangestelltenhaltung, sondern eigentlich auch bei der Massentierhaltung zu beachten wäre.

Source : https://www.heise.de/tp/features/Arbeitet-man-am-besten-im-eigenen-Buero-oder-gleich-Zuhause-3336745.html

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Erdogans Röhm-Putsch

Erdogans Röhm-Putsch

Verschwörungstheorien schießen nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei ins Kraut – und sie sind ausnahmsweise vollauf berechtigt

Wenn es eine Zeit gibt, um sich in Verschwörungstheorien zu ergehen, dann ist es während eines Umsturzversuches. Dieser geht ja zwangsläufig mit einer Verschwörung derjenigen Machtzirkel einher, die im Geheimen den Sturz einer Regierung planen. Ohne Verschwörung kann eine Junta logischerweise niemals erfolgreich sei. Generell gehören Verschwörungen zu den ältesten Machttechniken, die schon im frühen Altertum, am Beginn des Zivilisationsprozesses im Zweistromland, zur Anwendung gelangten.

Der manische Verschwörungstheoretiker hingegen, der überall Verschwörungen wittert und diese in alle historischen Großereignisse und gesellschaftlichen Umbrüche hineinprojiziert, will die ganze Welt als eine ewige Weltverschwörung begreifen. Er geht somit an den fetischistischen gesellschaftlichen Verhältnissen im Kapitalismus irre – die Verschwörungstheorien verfestigen sich bei ihm zu einer “Verschwörungsideologie”. Das Kapital bringt auf gesamtgesellschaftlicher und globaler Ebene eine widerspruchsvolle marktvermittelte Eigendynamik uferloser Selbstverwertung hervor, die den Menschen als eine fremde Macht gegenübertritt (“Die Märkte”) und die Gefühle der Ohnmacht und Heteronomie hervorruft, die die Brutstätte für Verschwörungsideologien bilden.

Im Fall des jüngsten Militärputsches in der Türkei ist es aber – wie ausgeführt – absolut legitim, Verschwörungstheorien auszustellen, da dieser zwangsläufig mit einer Verschwörung einherging. Die Frage, die sich nun auch viele Mainstream-Medien stellen, lautet, ob die offizielle türkische Version der Wahrheit entspricht. Demnach hätten Anhänger des exilierten muslimischen Klerikers und Erdogan-Konkurrenten Fethullah Gülen den Umsturzversuch eingeleitet. Während die große Säuberung des Militärapparates von dessen Anhängern bereits voll einsetzt, fordert Erdogan von den USA die Auslieferung Gülens.

Der in den USA im Exil lebende islamische Geistliche behauptet wiederum, der Putsch könne sehr wohl von Erdogan inszeniert worden sein. Laut dieser Logik ist der autoritäre türkische Präsident der Hauptprofiteur des dilettantischen Umsturzversuches, da er nun seine verbliebenen Gegner im Staatsapparat beseitigen und gegen die Opposition vorgehen kann, um seinen Wunschtraum eines autoritären Präsidialsystems in der Türkei zu realisieren. Inzwischen wurden auch tausende von Richtern und Justizangestellten entlassen, während Parteieinrichtungen der linken Prokurdischen Partei HDP angegriffen wurden. Es wird auch von Angriffen auf Syrer und Alewiten berichtet.

Anhänger Erdogans

Anhänger Erdogans. Source : https://twitter.com/pirtukciyann/status/754259995374551040

Ist es Erdogan zuzutrauen, einen Putsch zu fingieren, um seine Machtbasis auszubauen? Absolut

Erdogan ließ ein russisches Kampfflugzeug abschießen. Der türkische Präident ist gewillt, über Leichenberge zu schreiten, um seine Ziele zu erreichen. Erdogan hat den Krieg gegen die Kurden im Südosten der Türkei entfacht, um sich als “starker Mann” zu profilieren und bei den vergangenen Parlamentswahlen erneut die absolute Mehrheit zu sichern. Überdies gibt es eindeutige Beweise dafür, dass die türkische Führung bereit ist, im Rahmen einer Eskalationsstrategie False-Flag-Operationen durchzuführen, um ihre Ziele zu erreichen. Türkische Regierungsmitglieder haben über fingierte Raketenangriffe auf türkische Städte debattiert, um eine Intervention in Syrien zu legitimieren (Türkei: Verbot der Berichterstattung über False-Flag-Leak).

Zudem war der Putsch für türkische Verhältnisse absolut dilettantisch durchgeführt worden. Die türkische Armee hat in der Durchführung von Umstürzen reiche Erfahrungen 1960, 1970, 1980 und 1997 sammeln können. Dieses Mal waren nur wenige Einheiten aktiv beteiligt, die wichtigsten Entscheidungsträger der Regierung wurden nicht verhaftet, die Medien konnten nicht unter Kontrolle gebracht werden, das Internet – das in der Türkei bei jeder Krise lahmgelegt wird – funktionierte weitgehend. Von der New York Times bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung wunderte man sich über den stümperhaften Putsch, der eine False-Flag-Operation nahelegt. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, nennte den Putsch “merkwürdig”, da die vorangegangenen Umstürze ganz anders abgelaufen seien.

Anhänger von Gülen dürften für den Putsch verantwortlich sein

Dennoch passt gerade der stümperhafte Verlauf der Insurrektion des Militärs zu der Hypothese, diese sei von – den Überresten! – der Anhängerschaft des Klerikers Gülen durchgeführt worden. Gülen, der seit den 70ern ein weitverzweigtes Netz von islamistischen Bildungseinrichtungen aufbaute, war ein enger islamistischer Verbündeter Erdogans, bis er diesem zu mächtig wurde und die Islamisten sich 2013 überworfen haben. Solange der politische Islamismus in der Türkei die alten nationalistisch-kemalistischen Eliten zum Hauptfeind hatte, traten diese Spannungen nicht offen auf. Erst nachdem der “tiefe Staat” in der Türkei im Rahmen der Ergenekon-Schauprozesse 2011 von Kemalisten in Militär und Staatsapparat weitgehend gesäubert wurde, brachen die Rivalitäten zwischen Gülen und Erdogan offen aus.

Deswegen ist es sehr unwahrscheinlich, dass die inzwischen arg geschwächte kemalistische Fraktion innerhalb der Streitkräfte den Putsch wagte. Der private Nachrichtendienst Stratfor, der über sehr gute Kontakte zu der berüchtigten “Intelligence Community” verfügt, meldete sofort, dass es Gülen-Leute seien, die den Putsch durchführten – und dass dieser folglich scheitern müsse. Gülen konnte seinen Einfluss in den Streitkräften und im Sicherheitsapparat seit den 1970ern ausbauen, bis 2014 ein großer Teil seiner Anhänger nach dessen Bruch mit Erdogan massiven Säuberungswellen zu Opfer fiel. Es waren somit die verbliebenen Gülen-Anhänger, die den Coup wagten – was eine Unterstützung seitens der verbliebenen Kemalisten sehr unwahrscheinlich machte, so Stratfor:

Letztendlich war es eine islamistische Fraktion innerhalb des Militärs, mit der die säkularen Kräfte in den Streitkräften verfeindet waren, die die Attacke gegen Erdogan wagte. Mit anderen Worten: Dieser Coup wird nicht unterstützt durch die säkulare politische, militärische und zivile Opposition.
Stratfor

Ein weiteres Detail macht diese These plausibel. Die verbliebenen Gülen-Leute in den Streitkräften sollten während einer Postenrotation im kommenden August kaltgestellt werden. Damit handelte es sich für diese islamistische, mit Erdogan verfeindete Fraktion um eine letzte Option, doch noch die Machtfrage zustellen. Letztendlich war es eine Verzweiflungstat einer ideologischen Strömung innerhalb des politischen Islamismus, die dabei war, machtpolitisch total marginalisiert zu werden.

Schließlich war der Putsch schlicht zu blutig, um als eine bloße Inszenierung abgetan werden zu können. Die Verantwortlichen werden einen “hohen Preis” zahlen, so Erdogan. Die Einführung der Todesstrafe wird diskutiert. Welcher Offizier hätte sich auf solch ein abgekartetes Spiel eingelassen?

Hat Erdogan den Putschversuch zugelassen, um seine Macht auszubauen?

Das heißt aber nicht, dass dieser Putsch nicht doch gewisse Momente einer Inszenierung hatte. Die blitzschnelle Ausschaltung der Gegner im Sicherheitsapparat, die sofortigen massenhaften Verhaftungen lassen durchaus den Verdacht zu, dass die türkische Staatsführung die Eskalation bewusst suchte, um einen Vorwand für die weitere Festigung ihrer Machtbasis zu haben. Dies entspricht ganz der bisherigen Eskalationsstrategie Erdogans bei politischen Krisen. Die Regierung dürfte von den Plänen der Putschisten Kenntnis gehabt haben, da – wie die FAZ berichtet – die “Sicherheitsvorkehrungen durch regierungstreue Polizeikräfte” vor dem Umsturzversuch “sichtbar erhöht wurden”.

Zudem muss der Präsident schlicht sehr großes Glück gehabt haben – um es mal vorsichtig zu formulieren. Die Putschisten haben tatsächlich sofort versucht, Erdogan auszuschalten. Ein Kampfflugzeug griff das Hotel an, in dem er seit einer Woche Urlaub machte. Doch der Präsident hatte dieses Etablissement in Marmaris vorzeitig verlassen.

Zudem scheint es unglaubwürdig, dass der türkische Geheimdienst MIT, dessen Hauptquartier von den Putschisten beschossen wurde, keine Informationen über den Umsturzversuch erhalten hätte. Immerhin sollte es sich dabei um Gülen-Anhänger handeln, die kurz davor standen, ihre Machtmittel zu verlieren. Ein Geheimdienst, der diese unsicheren Kantonisten nicht besonders intensiv überwachte, handelte grob fahrlässig.

Damit bleiben zwei wahrscheinliche Optionen bei dieser Verschwörungstheorie: Die Regierung hat Wind bekommen von den Putschvorbereitungen und die Putschisten sahen sich zum übereilten Handeln gezwungen. Erdogan könnte die militärische Eskalation mit den weitgehend isolierten Gülen-Anhängern bewusst zugelassen haben, um einen neuen autoritären Schub in der Türkei entfachen zu können. Statt sie im Vorfeld des Putsches zu verhaften, war es politisch einträglicher, die isolierten Putschisten ins offene Messer laufen zu lassen. Er kann nun seine Machtvertikale ausbauen, indem er den Staatsapparat säubert und die Opposition weiter knebelt, während die ersehnte Präsidialverfassung zum Greifen nahe ist.

Sollte sich diese Hypothese bestätigen, scheinen historische Analogien zum Röhm-Putsch in der Frühphase des deutschen Faschismus angebracht, als mit der Ausschaltung der SA strategische Weichenstellungen für die Machtkonstellationen im NS-Staat getroffen wurden. Eine ähnliche Bereinigung und Säuberung der Machtvertikale scheint nun auch beim extremistischen politischen Islamismus in der Türkei stattzufinden, der in Wechselwirkung mit dem türkischen Nationalismus zu einer Art islamischen Klerikalfaschismus verschmilzt.

Source : http://www.heise.de/tp/artikel/48/48859/1.html

Von : Tomasz Konicz in TELEPOLIS > Politik > Meinung

Bewährungsstrafen und Geldbußen im “Luxleaks”-Prozess

Bewährungsstrafen und Geldbußen im “Luxleaks”-Prozess

Luxemburger Justiz spricht Urteile gegen Whistleblower. EU-Abgeordneter: Verfahren verletzt Rechtsempfinden der Bevölkerung

Im Prozess um den Luxleaks-Skandal (LuxLeaks-Aufdeckungs-Journalist im Visier der Gerichte) sind die beiden Whistleblower zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Die beiden Männer hatten fragwürdige Steuerdeals transnationaler Konzerne mit den Finanzbehörden in Luxemburg öffentlich gemacht.

Ein ehemaliger Mitarbeiter der international agierenden Wirtschaftsprüfungsfirma PriceWaterhouseCoopers (PwC), Antoine Deltour, wurde als Hauptangeklagter zu zwölf Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, zudem muss er eine Geldbuße zahlen. Das Bezirksgericht Luxemburg hielt ihn für schuldig, gut 45.000 Dokumentenseiten geleakt zu haben, aus denen die Beihilfe des luxemburgischen Staates bei der Steuervermeidung internationaler Konzerne ersichtlich wird.

Ein weiterer ehemaliger Buchhalter, Raphaël Halet, wurde von den Luxemburger Richtern zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten verurteilt, auch er muss zudem eine Geldbuße auf sich nehmen. Edouard Perrin, ein Journalist aus Frankreich, dem die Dokumente zugespielt wurden und der Informationen daraus veröffentlicht hatte, wurde freigesprochen.

Die Enthüllungen über symbolische Steuersätze von mitunter weniger als einem Prozent hatten international eine Debatte ausgelöst und Kritik an der Praxis europäischer Staaten provoziert, sich mit Steuern für Großunternehmen zu unterbieten. PwC hatte eine symbolische zivilrechtliche Einigung von einem Euro “Strafe” vorgeschlagen.

Die “Luxleaks”-Dateien waren zwischen den Jahren 2012 und 2014 veröffentlich worden. Damals wurde bekannt, dass sich neben Luxemburg auch andere EU-Staaten in einem wahren “Steuerwettbewerb” befinden.

Der Europaabgeordnete und Zeuge der Verteidigung von Antoine Deltour, Fabio De Masi, nahm gemeinsam mit dem Abgeordneten des Luxemburger Parlaments, David Wagner, an der Urteilsverkündung teil.

De Masi, der für die deutsche Linkspartei im Europäischen Parlament sitzt und dem Sonderausschuss zur Unternehmensbesteuerung angehört, bezeichnete Deltour als “Helden, der legalen und illegalen Steuerdiebstahl von Konzernen offenlegte”. Whistleblower, die dem Allgemeinwohl dienen und ihre berufliche Existenz opfern müssten ebenso geschützt werden wie die Pressefreiheit. “Verfahren wie gegen Deltour verletzten das Rechtsempfinden der Bevölkerung in der EU”, so De Masi. Auf Twitter schrieb er: “#Deltour und Halet werden verurteilt u. Steuerdiebe genießen Freiheit. Das ist skandalös u. beschämend!” Sven Giegold von den Grünen erklärte: “Luxemburger Richter begraben die Gerechtigkeit!”

Source : http://www.heise.de/tp/news/Bewaehrungsstrafen-und-Geldbussen-im-Luxleaks-Prozess-3251180.html

Von : Harald Neuber in TELEPOLIS > politik > Politik News

Sonderschlank und stolz darauf

Sonderschlank und stolz darauf

Unserer Sprache fehlt ein Wort für “weder dünn noch dick”. Wer nicht dünn ist, gilt nämlich automatisch als dick. Und das ist bekanntlich das neue asozial

Als ich etwa acht Jahre alt war, mussten wir in der Schule einmal eine Selbstbeschreibung verfassen. Brav formulierte ich Sätze über meine Haar- und Augenfarbe, mein Alter und worüber man eben sonst so schreibt. Eines aber ließ ich aus: meine Körperform. Meiner Lehrerin fiel das sofort auf, und sie ermahnte mich, ich müsse da noch etwas ergänzen: “Du musst schreiben: ‘Ich bin mollig.'” Das wollte ich aber nicht. Ich wollte nicht schreiben, dass ich “mollig” war. Erstens gefiel mir das Wort nicht. Und zweitens empfand ich es als nicht passend. Ich war doch nicht mollig! Aber – was dann?

Ich hatte meine Körperbeschreibung nicht ohne Grund weggelassen. Mir fehlte ein Wort. Ich war … naja, schlank nicht, zumindest wenn man schlank als “dünn” definiert, und das war – und ist bis heute – definitiv der Fall. Aber zwischen “dünn” und “mollig” musste doch noch etwas anderes liegen. “Normal”? “Gut gebaut”? Aber was heißt das schon? Mir war es noch am praktikabelsten erschienen, über meine körperliche Beschaffenheit einfach zu schweigen. Weder dünn noch mollig, da konnte man sich doch was dabei denken. Aber meine Lehrerin hatte kein Einsehen. Sie zwang mich, den unseligen Satz niederzuschreiben. Bis heute trage ich ihr diese Demütigung nach. “Ich bin mollig.” Ich wusste schon damals, was das heißt: “Du bist fett.”

Wenn man das Wort “mollig” in eine Bildersuchmaschine eingibt, kommen sie alle: Die Frauen (und, seltener, Männer), die “nicht dünn” sind. Das reicht von “mit weiblichen Kurven” bis “gefährliches Übergewicht”. Für den Limbus der Weder-Dicken-noch-Dünnen gibt es keine Bezeichnung. Also sind im Zweifelsfall alle fett. Stefan George hatte Recht, als er schrieb, “kein ding sei wo das wort gebricht”.

Wieder einmal entlarvt die Sprache unsere Unfähigkeit, in mehr als zwei Kategorien zu denken. Jenseits von “schlank” (also: dünn) beginnt die Grauzone des fetten Grauens. Mit dem “nicht-dünnen” Menschen verbinden wir eine ganze Flut von Assoziationen, und die sind meist negativ. Manche stellen sich vielleicht noch etwas Warmes, Anschmiegsames, Kuschelbares vor. Aber bei den meisten dürfte der Reflex in eine andere Richtung gehen. “Mollig”, das sind die Disziplinlosen, die Fresser, die Couch-Potatos, die Anstrengungsvermeider, die Demnächst-Diabetiker, kurz, Menschen, die zur Last fallen. Und zur Last zu fallen ist das große Tabu unserer Zeit.

Wer es sich in der “sozialen Hängematte” bequem machen will (wenn auch nur hypothetisch), wird zum gesellschaftlichen Paria. Wer den Stempel “mollig” mit sich trägt, ist also nicht einfach nur anders gebaut als andere, nein, er ist ein Leistungsverweigerer. Schlank zu sein ist keine Frage der Gene, sondern des Willens. Wer es nicht hinkriegt, ist nicht gesellschaftsfähig. “Der bemüht sich nur nicht, der lässt sich gehen.” Das muss doch drin sein, die paar Kilos abzuspecken. Jetzt reiß dich doch mal zusammen!

Facebook: Person mit “wünschenswertem” Körperbild beim Fahrradfahren oder Joggen

Über die Spirale von gesellschaftlichem Druck, Selbstzerfleischung, Minderwertigkeitskomplexen und schlechtem Gewissen ist schon hinlänglich geschrieben worden. Umsonst. Der Kampf gegen den unerwünschten Körper geht in die nächste Runde. Und die findet natürlich, wie alle unsere Kämpfe, im Cyberspace statt.

Ich meine jetzt nicht das übliche Mobbing gegen nicht-dünne Menschen, nicht die abschätzigen Sprüche, die teils als witzig, teils als gutgemeint wahrgenommen werden wollen (an dieser Stelle: werden sie nicht, vergesst es). Ich spreche von den Abbildungen nicht-dünner Menschen. Wann werden sie wohl je gebraucht? Richtig, als visuelle Begleitung von Artikeln über Diäten oder “Zivilisationskrankheiten” zum Beispiel. Mit nicht-dünnen Menschen bebildern wir, wovor gewarnt wird. Der nicht-dünne Mensch dient zur Abschreckung. Er ist die personifizierte Zügellosigkeit. Er ist der Vorzeige-Junkie des neuerdings als Killer-Droge verfemten Kristallzuckers. Er ist das Damoklesschwert, das über jedem Schokoladentörtchen schwebt: Wenn du jetzt zugreifst, bist du übermorgen nicht-dünn. Also: fett. Also: so gut wie tot. Zumindest gesellschaftlich.

Die wenigen Versuche, nicht-dünne Menschen in positiven Kontexten zu zeigen, enden häufig kläglich. Ein jüngstes Beispiel liefert Facebook, das eine Werbung blockierte, auf der eine – diesmal wirklich – mollige Frau im Bikini zu sehen war. Das Bild passe nicht zu seinen Idealen von Gesundheit und Fitness (“health and fitness policy”), begründete Facebook diese Entscheidung. Man solle doch eher ein Bild von einer Person mit einem “wünschenswerteren” Körperbild wählen. Und sie beim Fahrradfahren oder Joggen zeigen.

Jetzt könnte man meinen, was Facebook treibt, interessiert uns außerhalb Facebooks nicht. Da aber Facebook ernsthafte Anstalten macht, auch das Internet jenseits seines Hoheitsgebiets zu kapern, sollte man den Vorfall ernst nehmen.

Was bedeutet es für uns, wenn wir über ideologisch gefärbte Filterblasen mit “maßgeschneiderten” Bildern versorgt werden, die uns ausschließlich schlanke, Karotten nagende, joggende Menschen zeigen? Die Frage taucht freilich nicht erst jetzt auf, das Problem besteht schon länger. Aber es wird dringlicher. Der Selbstoptimierungswahn der Self-Tracker trifft auf den Druck von Arbeitgebern und Krankenkassen, und in einem scheinfreiwilligen Akt der Unterwerfung sehen wir uns zunehmend genötigt, unseren Lebensstil zu rechtfertigen oder an das Fitness- und Gesundheitsdiktat anzupassen.

Besonders benachteiligt sind hierbei vor allem jene, denen man das “Nicht-fit-Sein” scheinbar ansehen kann. Der Mann mit Schwabbelbauch, die Frau mit Hüftspeck, sie bedrohen unsere appetithemmerbunte Welt der standardisierten Blutzucker- und Cholesterinwerte und schicken sich an, mit ihrer tonnenschweren Last unsere Krankenkassen in den Kollaps zu treiben. Weg mit ihnen, zumindest weg aus dem Gesichtsfeld, fort in die Schattenwelt der Unansehnlichen und Unaussprechlichen. Nein, man will sie nicht vor Augen haben, die Nicht-Dünnen, jedenfalls nicht glücklich, lachend, selbstzufrieden. Sie haben kein Recht auf Glück und Selbstzufriedenheit. Sie sollen gefälligst zerknirscht sein und sich schämen, dass sie so viel Platz brauchen. Schlimm genug, dass es sie gibt. Müssen sie sich dann auch noch überall zeigen?

Es ist höchste Zeit für eine Nicht-Dünnen-Pride. Schon der Begriff ist natürlich lächerlich. “Fat Pride” wäre griffiger. Aber auch unzutreffender. Oder sollen wir Nicht-Dünnen es der Schwulenbewegung gleichtun und uns das F-Wort aneignen? “Fett und stolz darauf”?! Das würde für mich bedeuten, der abscheulichen Lehrerin von damals im Nachhinein doch noch Recht zu geben.

Ich stelle andere Forderungen. Erstens: Erfindet endlich ein Wort für die Nicht-Dünnen-aber-auch-nicht-Dicken! (Nünn? Sonderschlank? Im Zweifelsfall nehme ich zukünftig: “schön”). Und zweitens: Macht die Nicht-Dünnen sichtbar, und zwar jenseits des Schreckbildes einer Hamburger in sich hineinstopfenden Jammergestalt. Das Spektrum der Nicht-Dünnen ist (welch Überraschung) breit. Da passt viel rein. Sportlich, fit, gesund, lebensfroh, lustig, genial, tiefsinnig, klasse – das können nicht nur die Schlanken. Im Gegenteil: Schlank zu sein ist keine Garantie für Gesundheit, Fitness und Lebensglück, so sehr uns das auch wieder und wieder suggeriert wird.

Das Eliminieren “nicht wünschenswerter” Körperbilder aus unserer Wahrnehmung jedoch schrumpft unsere Welt auf eine schmale Palette der Ranken, Schlanken, Hageren, Mageren, Ausgezehrten, Schlaksigen, Knochigen und Hohlwangigen zusammen. Aber es gibt noch viel mehr da draußen, es gibt Schenkel und Brüste und Bäuche und Ärsche, und das sind keine Problemzonen. Das ist das pralle Leben.

Source : http://www.heise.de/tp/artikel/48/48494/1.html

Von : Selma Mahlknecht in TELEPOLIS > Kultur