Das Fundament der täglichen Arbeit in der Parteiendemokratie sind ein paar Fraktionen im Parlament, die entweder miteinander koalieren oder als geschlossene Truppen gegeneinander zu Felde ziehen. Die Vielschichtigkeit der Ansichten, Ziele, Lebenssituationen der Menschen wird auf ein paar kontrastreiche Farben reduziert, Disziplin nach innen und unerbittliche Gegnerschaft nach außen – das macht die Freund-Feind-Politik aus, die schon Carl Schmitt so klar beschrieben hat.

Glaubwürdigkeit kann in einer modernen informierten Gesellschaft so nicht gewonnen werden. Warum sollten zwei Abgeordnete, die beim Rauchverbot in Gaststätten einer Meinung sind, auch in Fragen des militärischen Eingreifens in Afghanistan und bei der Präimplantationsdiagnostik übereinstimmen. Das ist keinem Wähler plausibel, weshalb das Volk, nicht zu Unrecht, den Eindruck gewinnt, die Abgeordneten, die angeblich “nur ihrem Gewissen verpflichtet sind”, seien in Wirklichkeit die Soldaten im parlamentarischen Kampf, die von ihren Vorgesetzten in der Fraktionsführung oder in der Regierung beliebig hin- und her manövriert werden.

Ein Gegenentwurf dazu stellt die Idee der “Liquid Democracy”, also einer Verflüssigung der starren Fronten in der Parlamentsarbeit dar. Hier könnten, bezogen auf einzelne Themen und Sachfragen, Mehrheiten fließend gebildet werden. Grundprinzip ist, dass der einzelne Abgeordnete zu einem Thema entweder selbst die notwendige Sachkompetenz aufbaut oder – entsprechend seiner eigenen Grundeinstellung – einem Anderen vertraut, der dann den Stimmanteil des ersten mit verwendet. Auch dieser kann dann natürlich entscheiden, ob er selbst an der Abstimmung teilnimmt oder seinen Anteil an einen weiteren, kompetenteren Abgeordneten weitergibt.

Das Gespenst der Weimarer Republik

Könnte Liquid Democracy im Parlament funktionieren? Auf jeden Fall, und quasi ab sofort. Allerdings müsste dafür in den Köpfen sowohl der politischen Klasse als auch der öffentlichen Meinung einiges passieren.

Bei einem Bild von “wechselnden Mehrheiten”, wie es vom Konzept der Liquid Democracy unweigerlich produziert wird, mag man sich an die chaotischen Zustände der Weimarer Republik erinnert fühlen. Würde die Regierung nicht von einer Regierungskrise in die andere stürzen, wenn die Parteien der “Regierungskoalition” nicht bei allen Entscheidungen und Gesetzesvorhaben einheitlich abstimmen?

Das wäre nur dann der Fall, wenn man wegen jeder Einzelfrage gleich die ganze Beziehung infrage stellen würde. Im normalen Leben macht das niemand, in einer Ehe kann der eine zum Pop-Konzert und der andere ins Kino gehen, ohne dass gleich das Zusammenleben komplett zur Disposition steht.

Das Grundgesetz verankert nicht nur die Gewissens- und Fraktionsfreiheit jedes Abgeordneten, sondern auch die Gewaltenteilung. Nach dieser ist eine Kopplung der Regierung an eine Mehrheitskoalition im Parlament ohnehin nicht nötig. Wichtig ist nur, dass das Parlament sich zu Beginn einer Legislaturperiode auf eine Kanzlerin oder einen Kanzler einigt und dann die Regierungsmitglieder akzeptiert. Die Gewaltenteilung sieht dann vor, dass das Parlament die Gesetze beschließt, die diese Regierung dann – mit Unterstützung des Apparates der Ministerien – umzusetzen hat. Da kann dann durchaus das eine oder andere Gesetz dabei sein, dass der Kanzlerin nicht passt, nach dem Grundgesetz ist das gar nicht notwendig. Sie soll Gesetze nicht ausdenken, sondern umsetzen.

So könnten nach dem Prinzip der flüssigen Demokratie also die Parlamentarier mit fließenden Mehrheiten Gesetze beraten und beschließen und zur Umsetzung an das Kabinett weiterleiten. Wir könnten eine authentischere, glaubhaftere Politik haben, ohne dass auch nur ein Wort am Grundgesetz zu ändern wäre – sein Wortlaut müsste nur ernst genommen werden.

Aber wie wird dann gewählt?

Man könnte einwenden, dass die Wähler aber klare Programme von Parteien wollen in denen steht, welche Politik die Partei, und nicht, welche verschiedenen Politiken die einzelnen Politiker verfolgen. Dazu ist zweierlei zu sagen:

Erstens werden sich Personen, die gleiche oder verwandte Ansichten zu politischen Fragen haben, weiterhin in der gleichen Partei zusammenfinden und das gleiche Grundsatzprogramm unterstützen. Für diese Grundsätze wird eine Partei gewählt, das heißt aber nicht, dass die Menschen, die da gewählt werden, in jeder Einzelfrage die gleiche Meinung haben müssen. Da darf es im Parlament genauso zugehen wie im Volk, das durch das Parlament ja repräsentiert werden soll.

Zweitens braucht so ein Parlament, das mit der Gewaltenteilung ernst macht, keine 5-Prozent-Hürde mehr. Damit könnten sich viel mehr Parteien mit viel differenzierten und spezialisierten Programmen um Plätze im Parlament bewerben. Vielen Menschen ist genau ein Politikfeld besonders wichtig – und die Spezialisten für dieses Feld könnten sie sich ins Parlament wählen, damit sie unter den anderen Abgeordneten für die Felder, auf denen sie kompetent sind, um Vertrauen und Mehrheiten werben.

Source : http://www.heise.de/tp/artikel/35/35710/1.html

Von : Jörg Friedrich in Telepolis > Politik