Unserer Sprache fehlt ein Wort für “weder dünn noch dick”. Wer nicht dünn ist, gilt nämlich automatisch als dick. Und das ist bekanntlich das neue asozial

Als ich etwa acht Jahre alt war, mussten wir in der Schule einmal eine Selbstbeschreibung verfassen. Brav formulierte ich Sätze über meine Haar- und Augenfarbe, mein Alter und worüber man eben sonst so schreibt. Eines aber ließ ich aus: meine Körperform. Meiner Lehrerin fiel das sofort auf, und sie ermahnte mich, ich müsse da noch etwas ergänzen: “Du musst schreiben: ‘Ich bin mollig.'” Das wollte ich aber nicht. Ich wollte nicht schreiben, dass ich “mollig” war. Erstens gefiel mir das Wort nicht. Und zweitens empfand ich es als nicht passend. Ich war doch nicht mollig! Aber – was dann?

Ich hatte meine Körperbeschreibung nicht ohne Grund weggelassen. Mir fehlte ein Wort. Ich war … naja, schlank nicht, zumindest wenn man schlank als “dünn” definiert, und das war – und ist bis heute – definitiv der Fall. Aber zwischen “dünn” und “mollig” musste doch noch etwas anderes liegen. “Normal”? “Gut gebaut”? Aber was heißt das schon? Mir war es noch am praktikabelsten erschienen, über meine körperliche Beschaffenheit einfach zu schweigen. Weder dünn noch mollig, da konnte man sich doch was dabei denken. Aber meine Lehrerin hatte kein Einsehen. Sie zwang mich, den unseligen Satz niederzuschreiben. Bis heute trage ich ihr diese Demütigung nach. “Ich bin mollig.” Ich wusste schon damals, was das heißt: “Du bist fett.”

Wenn man das Wort “mollig” in eine Bildersuchmaschine eingibt, kommen sie alle: Die Frauen (und, seltener, Männer), die “nicht dünn” sind. Das reicht von “mit weiblichen Kurven” bis “gefährliches Übergewicht”. Für den Limbus der Weder-Dicken-noch-Dünnen gibt es keine Bezeichnung. Also sind im Zweifelsfall alle fett. Stefan George hatte Recht, als er schrieb, “kein ding sei wo das wort gebricht”.

Wieder einmal entlarvt die Sprache unsere Unfähigkeit, in mehr als zwei Kategorien zu denken. Jenseits von “schlank” (also: dünn) beginnt die Grauzone des fetten Grauens. Mit dem “nicht-dünnen” Menschen verbinden wir eine ganze Flut von Assoziationen, und die sind meist negativ. Manche stellen sich vielleicht noch etwas Warmes, Anschmiegsames, Kuschelbares vor. Aber bei den meisten dürfte der Reflex in eine andere Richtung gehen. “Mollig”, das sind die Disziplinlosen, die Fresser, die Couch-Potatos, die Anstrengungsvermeider, die Demnächst-Diabetiker, kurz, Menschen, die zur Last fallen. Und zur Last zu fallen ist das große Tabu unserer Zeit.

Wer es sich in der “sozialen Hängematte” bequem machen will (wenn auch nur hypothetisch), wird zum gesellschaftlichen Paria. Wer den Stempel “mollig” mit sich trägt, ist also nicht einfach nur anders gebaut als andere, nein, er ist ein Leistungsverweigerer. Schlank zu sein ist keine Frage der Gene, sondern des Willens. Wer es nicht hinkriegt, ist nicht gesellschaftsfähig. “Der bemüht sich nur nicht, der lässt sich gehen.” Das muss doch drin sein, die paar Kilos abzuspecken. Jetzt reiß dich doch mal zusammen!

Facebook: Person mit “wünschenswertem” Körperbild beim Fahrradfahren oder Joggen

Über die Spirale von gesellschaftlichem Druck, Selbstzerfleischung, Minderwertigkeitskomplexen und schlechtem Gewissen ist schon hinlänglich geschrieben worden. Umsonst. Der Kampf gegen den unerwünschten Körper geht in die nächste Runde. Und die findet natürlich, wie alle unsere Kämpfe, im Cyberspace statt.

Ich meine jetzt nicht das übliche Mobbing gegen nicht-dünne Menschen, nicht die abschätzigen Sprüche, die teils als witzig, teils als gutgemeint wahrgenommen werden wollen (an dieser Stelle: werden sie nicht, vergesst es). Ich spreche von den Abbildungen nicht-dünner Menschen. Wann werden sie wohl je gebraucht? Richtig, als visuelle Begleitung von Artikeln über Diäten oder “Zivilisationskrankheiten” zum Beispiel. Mit nicht-dünnen Menschen bebildern wir, wovor gewarnt wird. Der nicht-dünne Mensch dient zur Abschreckung. Er ist die personifizierte Zügellosigkeit. Er ist der Vorzeige-Junkie des neuerdings als Killer-Droge verfemten Kristallzuckers. Er ist das Damoklesschwert, das über jedem Schokoladentörtchen schwebt: Wenn du jetzt zugreifst, bist du übermorgen nicht-dünn. Also: fett. Also: so gut wie tot. Zumindest gesellschaftlich.

Die wenigen Versuche, nicht-dünne Menschen in positiven Kontexten zu zeigen, enden häufig kläglich. Ein jüngstes Beispiel liefert Facebook, das eine Werbung blockierte, auf der eine – diesmal wirklich – mollige Frau im Bikini zu sehen war. Das Bild passe nicht zu seinen Idealen von Gesundheit und Fitness (“health and fitness policy”), begründete Facebook diese Entscheidung. Man solle doch eher ein Bild von einer Person mit einem “wünschenswerteren” Körperbild wählen. Und sie beim Fahrradfahren oder Joggen zeigen.

Jetzt könnte man meinen, was Facebook treibt, interessiert uns außerhalb Facebooks nicht. Da aber Facebook ernsthafte Anstalten macht, auch das Internet jenseits seines Hoheitsgebiets zu kapern, sollte man den Vorfall ernst nehmen.

Was bedeutet es für uns, wenn wir über ideologisch gefärbte Filterblasen mit “maßgeschneiderten” Bildern versorgt werden, die uns ausschließlich schlanke, Karotten nagende, joggende Menschen zeigen? Die Frage taucht freilich nicht erst jetzt auf, das Problem besteht schon länger. Aber es wird dringlicher. Der Selbstoptimierungswahn der Self-Tracker trifft auf den Druck von Arbeitgebern und Krankenkassen, und in einem scheinfreiwilligen Akt der Unterwerfung sehen wir uns zunehmend genötigt, unseren Lebensstil zu rechtfertigen oder an das Fitness- und Gesundheitsdiktat anzupassen.

Besonders benachteiligt sind hierbei vor allem jene, denen man das “Nicht-fit-Sein” scheinbar ansehen kann. Der Mann mit Schwabbelbauch, die Frau mit Hüftspeck, sie bedrohen unsere appetithemmerbunte Welt der standardisierten Blutzucker- und Cholesterinwerte und schicken sich an, mit ihrer tonnenschweren Last unsere Krankenkassen in den Kollaps zu treiben. Weg mit ihnen, zumindest weg aus dem Gesichtsfeld, fort in die Schattenwelt der Unansehnlichen und Unaussprechlichen. Nein, man will sie nicht vor Augen haben, die Nicht-Dünnen, jedenfalls nicht glücklich, lachend, selbstzufrieden. Sie haben kein Recht auf Glück und Selbstzufriedenheit. Sie sollen gefälligst zerknirscht sein und sich schämen, dass sie so viel Platz brauchen. Schlimm genug, dass es sie gibt. Müssen sie sich dann auch noch überall zeigen?

Es ist höchste Zeit für eine Nicht-Dünnen-Pride. Schon der Begriff ist natürlich lächerlich. “Fat Pride” wäre griffiger. Aber auch unzutreffender. Oder sollen wir Nicht-Dünnen es der Schwulenbewegung gleichtun und uns das F-Wort aneignen? “Fett und stolz darauf”?! Das würde für mich bedeuten, der abscheulichen Lehrerin von damals im Nachhinein doch noch Recht zu geben.

Ich stelle andere Forderungen. Erstens: Erfindet endlich ein Wort für die Nicht-Dünnen-aber-auch-nicht-Dicken! (Nünn? Sonderschlank? Im Zweifelsfall nehme ich zukünftig: “schön”). Und zweitens: Macht die Nicht-Dünnen sichtbar, und zwar jenseits des Schreckbildes einer Hamburger in sich hineinstopfenden Jammergestalt. Das Spektrum der Nicht-Dünnen ist (welch Überraschung) breit. Da passt viel rein. Sportlich, fit, gesund, lebensfroh, lustig, genial, tiefsinnig, klasse – das können nicht nur die Schlanken. Im Gegenteil: Schlank zu sein ist keine Garantie für Gesundheit, Fitness und Lebensglück, so sehr uns das auch wieder und wieder suggeriert wird.

Das Eliminieren “nicht wünschenswerter” Körperbilder aus unserer Wahrnehmung jedoch schrumpft unsere Welt auf eine schmale Palette der Ranken, Schlanken, Hageren, Mageren, Ausgezehrten, Schlaksigen, Knochigen und Hohlwangigen zusammen. Aber es gibt noch viel mehr da draußen, es gibt Schenkel und Brüste und Bäuche und Ärsche, und das sind keine Problemzonen. Das ist das pralle Leben.

Source : http://www.heise.de/tp/artikel/48/48494/1.html

Von : Selma Mahlknecht in TELEPOLIS > Kultur