Die große Weltunordnung

Die große Weltunordnung

Eine Kolumne von Theo Sommer

Nie zuvor hat es in den letzten Jahrzehnten so viel gefährliche Konflikte gegeben wie heute. Das Schlimmste daran: Die Staatenlenker sind nicht in der Lage, sie zu lösen.

Seit über 60 Jahren schreibe ich über Weltpolitik, aber noch nie sind mir die Zeiten so friedlos und heillos vorgekommen wie heute. Die ersten drei Jahrzehnte stand der Ost-West-Konflikt im Zentrum. Nach dessen Ende seit 1989 erwartete ich wie viele andere eine Epoche des Friedens, ungetrübten Wirtschaftswachstums und wachsender Integration der Völker und Staaten. Eine Zeit lang schien die Annäherung zwischen West und Ost auch zu gelingen. Die Globalisierung holte Hunderte Millionen Menschen aus der Armut, zumal in China, doch nicht nur dort. Der sich ausbreitende Wohlstand nährte die Hoffnung auf weltweite Demokratisierung.

Heute wissen wir: Das waren alles Illusionen. Schon vor Putins Besetzung der Krim fiel das Verhältnis zwischen dem Westen und Moskau aufs Neue in einen Abgrund des Misstrauens und der geopolitischen Rivalität. Nach Chinas rasantem wirtschaftlichen Aufstieg ist die ehrgeizige Pekinger Führungselite nun mit dem ökonomischen Gewicht der Volksrepublik in die Weltpolitik eingetreten und bietet den Autoritären rund um den Globus gleichzeitig das Modell eines Kapitalismus ohne Demokratie an. Der dschihadistische Terror bedrohte die gesamte zivilisierte Welt und die Zerwürfnisse in Nah- und Mittelost haben zig Millionen Flüchtlinge außer Landes geführt, viele von ihnen bis zu uns nach Europa. Die Globalisierung destabilisierte die Gesellschaften in den westlichen Industriestaaten und führte gleichzeitig dazu, dass die Konflikte in den fernsten Erdteilen unmittelbar auf uns durchschlagen.

Wer könnte heute noch, wie die Osterspaziergänger in Goethes Faust, froh von sich sagen: “Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg – und Kriegsgeschrei / Wenn hinten, weit, in der Türkei / Die Völker aufeinander schlagen”?

Vorbei die Zeit, ein für allemal. Die Weltwirtschaft schwächelt, manche befürchten, dass aus der gegenwärtigen Konjunkturdelle eine Rezession wird; die fortdauernden Zollscharmützel könnten in einen verheerenden Handelskrieg münden. Die Gewissheiten internationaler Zusammenarbeit werden auch in den politischen Beziehungen immer weniger – in der transatlantischen Gemeinschaft, wo Donald Trump die Verlässlichkeit amerikanischer Partnerschaft untergräbt, doch sogar in der Europäischen Union, wo verblendeter Nationalegoismus die Brexit-Krise heraufbeschwor und anderswo Populismus und Autoritarismus den Zusammenhalt bedrohen.

Die heutige Weltordnung ist eine einzige Weltunordnung. Geopolitische Konflikte sind wieder denkbar geworden. Von Rüstungskontrolle, gar von Abrüstung, ist unter den Großmächten keine Rede mehr, vielmehr rüsten alle ihre Kernwaffenarsenale mit viel Geld auf. Die Weltuntergangsuhr des Bulletin of Atomic Scientists steht auf zwei Minuten vor zwölf – wie im Jahre 1953. “Wir befinden uns in einer Lage, die potenziell gefährlicher ist als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Ende des Kalten Krieges”, sagte Wolfgang Ischinger, ehemaliger Topdiplomat Deutschlands, auf der von ihm geleiteten Münchner Sicherheitskonferenz.

Konflikte, die nie enden

Die Weltlage? Ein nicht zu gewinnender Krieg in Afghanistan. Gefährliche Instabilität in Irak. Fortdauernder Bürgerkrieg in Syrien. Ein entsetzlicher Krieg im Jemen. Verschärfte Spannungen zwischen Saudi-Arabien und Israel auf der einen und dem Iran auf der anderen Seite. Keine Palästina-Lösung. Kämpfe rivalisierender Milizen in Libyen. Eine drohende US-Militärintervention in Venezuela. Eine sich zuspitzende Konfrontation zwischen China und den Vereinigten Staaten im Indopazifik, die auch ein Handelsabkommen, über das derzeit verhandelt wird, nicht nachhaltig abmildern würde. In jüngster Zeit zudem die Zuspitzung des Dauerkonflikts der beiden Atommächte Indien und Pakistan über Kaschmir – viermal schon haben sie nach ihrer Unabhängigkeit Krieg miteinander geführt, 1947/48, 1965, 1971 und zuletzt 1999 im Konflikt um die Kaschmirprovinz Kargil.

Ich kann mich nicht erinnern, in den letzten sechs Jahrzehnten jemals so viele Konflikte gleichzeitig erlebt zu haben – so viele Konflikte außerdem, die nie aufhören, sondern endlos weitergehen. Kriege werden nicht mehr erklärt. Friedensschlüsse sind außer Mode gekommen: Trump hat es in Korea nicht geschafft; die Gespräche mit den afghanischen Taliban ziehen sich hin; in Nahost signalisiert ein Ende von Kampfhandlungen noch lange nicht den Frieden.

 
Dass Schlimmste an dieser heillosen Zeit ist, dass alle Staatenlenker so tief in die Probleme des eigenen Landes verstrickt sind, dass die Lösung der Weltprobleme von ihnen schwerlich zu erwarten ist. Die EU-Führung ist im Übergang, Angela Merkel im Abgang, Emmanuel Macron im Niedergang, die Westminster-Demokratie Großbritanniens wo nicht im Untergang, so doch in der schwersten, an Regierungsunfähigkeit grenzenden Krise ihrer Geschichte; und der amerikanische Präsident ist zu einer wankelmütigen weltpolitischen Größe geworden.

Mehr als einmal habe ich in jüngster Zeit an den Ausspruch des schwedischen Staatsmannes Axel Oxenstierna (1583–1654) denken müssen: “Du weißt nicht, mein Sohn, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird.” Aber dürfen wir uns wirklich an die Heillosigkeit der Zustände und die Ratlosigkeit und Unfähigkeit der politischen Akteure gewöhnen?

Erschienen am 19. März 2019, 7:41 Uhr in Die Zeit.

Autor : Theo Sommer

https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-03/weltpolitik-globalisierung-weltwirtschaft-kriege-krisen-populismus-5vor8

Sonnenkult

Sonnenkult

Ist Kernenergie autokratisch und Sonnenergie demokratisch? Befördert die Hinwendung zu Solarstrom die Demokratie in Deutschland? Besitzen Sonne und die von ihr gespendete Energie gar demokratische Züge und Eigenschaften?

Ulrich Beck, Soziologe an der LMU in München und Mitglied der Ethik-Kommission der Bundesregierung, die den Atomausstieg Deutschlands argumentativ befeuerte, scheint davon felsenfest überzeugt zu sein. In einem Artikel, den er neulich in der F.A.Z. publizierte (Der Irrtum der Raupe), kann man das nachzulesen.

Die Havarie in Fukushima habe deutlich gemacht, dass Kernkraft an sich “hierarchisch” und “antidemokratisch” sei. Sie sozialisiere Risiken und Gefahren, während sie Profite privatisiere. Die Sonnenenergie sei da völlig anders. Da “niemand das Sonnenlicht besitzen, es weder privatisieren noch nationalisieren könne”, werde derjenige “unabhängig”, der sie erschließt und nutzt. Darum zöge der Einstieg in die Sonnenenergie “emanzipatorische Konsequenzen” nach sich. “Staaten und zivilgesellschaftlichen Bewegungen” böte sie “neue Legitimationsquellen und Handlungsoptionen”, derer sie sich nur “bemächtigen” müssten.

Mal abgesehen davon, dass eine Katastrophe kaum als “Legitimationsquelle” taugt, hat es mit dem “Bemächtigen” und “Entmächtigen”, mit “Bewegung” und “Entscheidung”, mit “historischen Augenblick” und “existentiellen” Problemen so seine Bewandtnis. Vor allem hierzulande. Unwillkürlich taucht vor dem Hellhörigen jene jüngere deutsche Geschichte auf, in denen diese Semantik und dieses Vokabular eine unselige Rolle gespielt.

Unumkehrbar machen

Er wird sich vielleicht an Martin Heideggers “Rektoratsrede” erinnern, als dieser am 24. Juni 1933, nach der Machtergreifung der Nazis und kurz nach der “Sommersonnenwende”, ebenfalls Feuer, Licht und Flammen bemühte, um seinen Studenten den Weg und Alleingang eines neuen, nationalen Deutschlands zu weisen. “Flamme!”, tönte Heidegger im Hörsaal vor versammelten Braunhemden, “Dein Lodern künde uns: Die deutsche Revolution schläft nicht, sie zündet neu umher und erleuchtet uns den Weg, auf dem es kein Zurück mehr gibt.”

Den irreversiblen Weg, den die “deutsche Bewegung” eingeschlagen hat, kennt man. Das tausendjährige Reich hielt gerade mal zwölf Jahre. Ihn muss man sich auch deswegen ins Gedächtnis rufen, weil sich die Regierung bei der Energiewende (wie später auch in der Griechenland-Hilfe) auf einen “Notstand” berufen hat. Zumal es dadurch möglich wurde, das Parlament von der Entscheidungsfindung auszuschließen und die Abgeordneten zu Abnickern und Durchwinkern umzufunktionieren.

Carl Schmitt hätte sich angesichts dieser neuen Form “demokratischer Selbstermächtigung” in seinen antiliberalen Haltungen und antidemokratischen Gefühlen wieder mal bestätigt gefühlt. Und über eine derart krude Freund-Feind-Zuspitzung, hier die böse Atomlobby, dort die gute Solarindustrie, hätte er vermutlich eher verdutzt die Stirn gerunzelt.

In einem Rechtsstaat wie dem unsrigen gibt es dafür, darauf haben sowohl Ulrich Schacht in der F.A.Z. (Will er jetzt den Sonnengott spielen) als auch Alexander Marguier in der Zeitschrift Cicero (Am deutschen Wesen soll die Welt genesen) hingewiesen, ebenso bewährte wie gut funktionierende Institutionen, die über so weit reichende und tief greifende Entscheidungen befinden und/oder “anti-demokratische” Unternehmen, wie sie die Kernkraftindustrie angeblich sein soll, überwachen und kontrollieren.

Noch übten im demokratischen Rechtsstaat die Parlamente und die vom Volk gewählten Abgeordneten die Entscheidungsgewalt aus, weder eine sich selbst legitimierende Regierung noch ein havariertes AKW in 9.000 Kilometer Entfernung könnten dies ändern – Vernetzung und Globalisierung hin oder her.

Verpasste Emanzipation

Auch mit der “Emanzipation”, Lieblingsvokabel der Sechziger und Siebziger des letzten Jahrhunderts, verhält es sich bei weitem nicht so simpel, wie der Soziologe sich das an seinem Schreibtisch vielleicht ausmalen mag. Zu ihr gehört, dass die Betroffenen die Gelegenheit haben müssen, sie als “ihre Sache” wahrzunehmen. Wird sie per Command and Control verkündet, an- oder verordnet, dann wäre sie verpasst.

Seitdem die herrschende Meinung die Energiewende öffentlich sanktioniert, scheint es, als ob dieser Entscheidung ein autokratischer Automatismus folgt. Wer sie nicht nach- oder mitvollzieht, könne, wie der deutsche Umweltminister das neulich verlauten ließ, schnell “an den Rand der Gesellschaft” gedrängt werden. Der “Sonnenstaat”, den in der Renaissance Tommaso Campanella bekanntlich als autokratische “Sozialutopie” entwarf, lässt schon mal grüßen.

Mit technokratischen Programmen kann, das haben die politischen und pädagogischen Menschenversuche in den Bildungseinrichtungen der Siebziger Jahre gezeigt, Mündigkeit ebenso produziert werden wie Unmündigkeit. Wer vor der Energiewende noch für kritikfähig und verantwortlich gehalten wurde, wer kreativ und selbstbestimmt gehandelt hat, kann, wenn er nicht in den mehrheitlichen Chor der Überzeugten einstimmt, rasch für “verantwortungslos” und “wirklichkeitsblind” gehalten werden, “blind für emanzipatorische Konsequenzen” wie eben, laut Beck, “Amerikaner, Briten und Franzosen”.

Bevor er derart politisch bedenklichen Unsinn verbreitet, hätte der Soziologe besser daran getan, sich etwas genauer mit der Sonne auseinanderzusetzen. Zeit dafür hätte er seit seiner Emeritierung ja. Dann wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass ohne das astrophysikalische Studium der Kernprozesse, die in der Sonne stattfinden, weder die Wasserstoffbombe erfunden noch eine friedliche Nutzung der Kernenergie möglich gewesen wäre. Die Sonne ist mithin nicht nur Segen, sondern eben auch Fluch, sie leuchtet, wärmt und macht lebendig, sie blendet aber auch, treibt in den Wahnsinn, gefährdet die Gesundheit und ist auch todbringend.

Wer wüsste das besser als Ikarus, der sich mit seinem Flugapparat im Hochgefühl zu nahe an sie heranwagte und abstürzte; wer wüsste das nicht besser als Azteken und Mayas, die dem Sonnengott zu Ehren, Sonnenpyramiden bauten, und ihm, um ihn zu besänftigen, Menschenopfer darbrachten; und wer wüsste das nicht besser als Hannelore Kohl, die, weil sie das Sonnenlicht nicht mehr vertragen konnte, schon beim Morgengrauen die Jalousien herunterließ und sich der Dunkelheit anheim gab.

Souverän sein

Die Sonne ist weder demokratisch noch autokratisch. Sie ist weder Garant des Lebens noch ist sie, wie Platon das in seinem “Sonnengleichnis” darstellt, das Wesen des “Wahren, Guten und Schönen”. Wäre der Soziologe Naturwissenschaftler, dann wüsste er, dass der forschende wie auch der denkerische Umgang mit der Sonne erhebliche Gefahren und Risiken birgt.

Falls der Sonne überhaupt ein Status zukommt, dann ist es der der Souveränität – im landläufigen wie im metaphysischen Sinn. Souverän ist sie, weil niemand ihren Lauf stören kann. Sie tut, was sie tut; sie scheint oder scheint nicht, mal stärker, mal schwächer, mancherorts öfter, andernorts viel zu wenig. Sie produziert üppiges Wachstum genauso wie Wüsten aus Sand, Eis oder Schnee.

Deutlich wird das, wenn man die Sonnenenergie in den größeren Rahmen einer Allgemeinen Ökonomie stellt. Dann erkennt man, dass die Sonne deutlich mehr Energie produziert als für das Leben und Wachstum auf der Erde notwendig ist. Dieses Überschuss-Prinzip findet man dank ihrer in allen lebenden Systemen, bei Pflanzen und Tieren genauso wie bei Menschen.

“Sonnenstrahlung”, konstatiert Georges Bataille in Die Ökonomie im Rahmen des Universums, zeichnet sich “durch ihren einseitigen Charakter aus: sie verliert sich ohne Berechnung, ohne Gegenleistung.” – “Sie gibt”, heißt es später in “Die Aufhebung der Ökonomie”, “ohne je etwas dafür zu bekommen.”

Großer Mittag Da wir nur einen gewissen Teil ihrer Strahlung nutzen, sie rationalisieren und ökonomisieren können, bleibt stets ein Rest, der verausgabt und verschwendet werden muss. Und weil dieser Rest auch nur eine gewisse Zeit lang kontrollierbar ist, wir auf ihre erste große Gabe nicht mit einer noch größeren Gegengabe antworten können, muss diese Überschussenergie ruinös verschwendet werden, durch Exzesse, Kunst und Kriege.

Um der Sonne Gabe und Geschenk (Gift bei Marcel Mauss) zurückgeben zu können, müsste der Mensch selbst zur Sonne werden, er müsste ihre Energie aufnehmen und das “ruhmvoll verausgaben, was die Erde angehäuft, was die Sonne verschwendet”. Er müsste mithin “ein Lachender, ein Tanzender, ein Festgeber” werden, der sich ohne Berechnung selbst verliert.

Von dieser “Zeit des großen Mittags”, wie es bei Nietzsche heißt, ist die bürgerliche Kapitalwirtschaft genauso meilenweit entfernt wie die “grüne” Nachhaltigkeitsökonomie. Das Symbol ihrer “Bewegung” müsste daher eher die “grüne Mamba” sein als die “Sonne”.

Source : http://www.heise.de/tp/blogs/6/150169

Von : Rudolf Maresch In : Telepolis > Kultur und Medien-News