“Unsere Überschüsse machen uns kaputt”

“Unsere Überschüsse machen uns kaputt”

Melkkarussel. Bild: © Thomas Fries / CC BY-SA 3.0 DE

Die globalisierte Milchwirtschaft quält nicht nur Tiere, sondern beutet auch Menschen in und außerhalb Europas aus

Seit Jahrzehnten wird in der industriellen Milchviehhaltung zu viel Milch erzeugt. Milch muss so günstig wie möglich produziert werden – zu stets sinkenden Preisen. Weil sie gezwungen sind, mit minimalem Aufwand maximale Leistungen aus den Milchkühen herauszuholen, sind die meisten Milchviehbetriebe in den EU-Ländern am Limit angekommen.

Oft hoch verschuldet versuchen Milchbauern über die Produktion von immer größeren Milchmengen möglichst kostendeckend zu arbeiten: Mit immer größeren Anlagen, immer mehr Technik und immer mehr Tieren pro Betrieb. Im November 2016 gab es dem Statistischen Bundesamt zufolge hierzulande 4,22 Millionen Milchkühe, zwei Jahre zuvor waren es noch 4,3 Millionen.

Obwohl sich die Anzahl der Tiere leicht verringert hat, bleiben die in der EU produzierten Milchmengen unverändert hoch. Das geht nur, weil eine moderne Kuh immer mehr Milch gibt. Großrahmig und mager muss sie sein und ein möglichst großes Euter haben, das sich bequem maschinell melken lässt.

Ein Betrieb in Süddeutschland beispielsweise melkt um die 300 Milchkühe. Damit gehört er eher zu den mittelgroßen. Früher habe man 100 Kühe auf die Weide geschickt, berichtet die Bäuerin im Interview mit dem Dokumentarfilmer Andreas Pichler.

Um 300 Kühe auf die Weide zu treiben, dafür wäre der Aufwand zu hoch, weshalb die Tiere heute im Stall bleiben. Nur mit Hilfe modernster Technik kann die Familie die Arbeit bewältigen. Auf die Milchpreise haben die Bauern keinen Einfluss.

“Im Januar 2018 kosteten 100 Kilogramm Kuhmilch ab Hof netto 36,74 Euro”, heißt es bei Statista. Der Preis für ein Liter liegt bei etwa 37 Cent. Umsteiger auf Bio-Produktion beklagen im März 2018, dass der Grundpreis für Milch aus konventioneller Produktion zu 30 Cent pro Liter tendiert . Da müsse mein sein eigenes Geld mitbringen.

Um kostendeckend zu arbeiten, sind mindestens 40 Cent nötig. Vor dem Hintergrund eines massiven Strukturwandels waren tausende Milchbauernhöfe während der letzten Jahrzehnte gezwungen, ihre Betriebe aufzugeben.

Glaubt man der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft (AMI), so war beispielsweise die Zahl der Höfe zu Beginn des Jahres 2017 gegenüber dem Vorjahr bundesweit um 5,6 Prozent geschrumpft. Den restlichen Milchbauern bleibt nur die Hoffnung, dass die Preise irgendwann doch steigen.

Freier Markt mit sinkenden Preisen

Die Molkereien sind die entscheidenden Schnittstellen zwischen Produzenten und Konsumenten. Ursprünglich genossenschaftlich organisiert, ist vom sozialen Aspekt der gemeinschaftlichen Vermarktung heute wenig übrig – zum Beispiel beim Unternehmen Arla Foods. Vor 130 Jahren schlossen sich Milchbauern in Dänemark und Schweden zusammen, um ihre Molkereierzeugnisse gemeinsam zu vermarkten.

Im Laufe der Zeit wurde aus einer kleinen Molkerei ein Milch verarbeitender Konzern, der nach und nach alle kleineren Molkereien schluckte. Mit ihnen verschwanden die Bauern: Gab es 1987 in Dänemark um die 37.000 Landwirte, die rund 5,5 Milliarden Liter Milch produzierten, wird dieselbe Milchmenge heute von nur noch 3.500 Bauern erzeugt.

So betreibt ein moderner dänischer Agrarunternehmer nicht selten sechs Höfe mit mehr als 700 Kühen. Eine Kuh wird natürlicherweise um die zwanzig Jahre alt, Hochleistungskühe leben höchstens fünf Jahre. Nachdem sie zum ersten Mal gekalbt haben, wird in den drei letzten Lebensjahren ein Maximum an Milch aus ihnen herausgepresst.

Weil die Kühe nur Milch geben, wenn sie jedes Jahr ein Kalb bekommen, werden sie kurz nach jeder Kalbung wieder künstlich besamt. Ohne Kalb keine Milch – ohne Milch keine Existenzberechtigung. Oft sind die Preise so niedrig, dass die Futterkosten nicht gedeckt werden können. Dann werden die Kälber getötet und auf den Müll geworfen. Aufgezogen werden überhaupt nur weibliche Kälber, die Bullenkälber werden nach der Geburt an den Viehhändler verkauft.

Kleine Milchbauern sind die Verlierer

Die verarbeitende Industrie braucht Milch als billiges Material. Für sie muss Milch immer im Überschuss verfügbar sein. Vor allem über Dumpingpreise können die Molkereien die Bauern unter Druck setzen, denn woanders können sie Milch immer noch billiger einkaufen. Diese wird zu Produkten zu verarbeitet, die dann in den Discountern zu Niedrigstpreisen verramscht werden.

Wie konnte es dazu kommen? Zu Beginn der 1980er Jahre führte man die Milchquote ein, um die Überproduktion von Milch – “Milchseen” und “Butterberge” – zu stoppen. Dreißig Jahre später, im April 2015 wurde die Quote wieder abgeschafft.

Denn die auf Export ausgerichtete Agrarindustrie wollte den freien Markt ohne Mengenbegrenzungen. Seither darf jeder Bauer so viel Milch produzieren, wie er will. Mit dem Ergebnis, dass die Preise sinken: Inzwischen hat jeder zweite Milchbauer seinen Betrieb aufgegeben und seine Kühe und Rinder schlachten lassen.

So sank die Zahl der deutschen Milchviehbetriebe während der vergangenen 15 Jahren von 140.000 auf weit unter 70.000.

Konzerne kämpfen um globalen Milchmarkt

In Brüssel wird entschieden, wie die Gelder verteilt werden. Aktuell fließen 45 Milliarden Euro – mit 40 Prozent der größte Posten im Haushalt der EU – in die europäische Landwirtschaft. Doch von den so genannten Flächenprämien profitieren in erster Linie die größten Agrarbetriebe mit den meisten Flächen.

In Europa verkaufen die größten Konzerne jährlich nahezu 200 Millionen Tonnen Milch und Milchpulver. Dabei geht es um einen Markt von 100 Milliarden Euro. Die mächtigsten Akteure auf dem Milchmarkt sind Nestlé (Schweiz) und Danone (Frankreich). In Deutschland gehören das Deutsche Milchkontor (DMK) und die Müller-Gruppe zu den führenden Molkereien.

Die Lobby-Verbände der Agrarindustrie vertreten in Brüssel nur zehn Prozent der europäischen Bauern und zwar jene, die immer moderner, industrieller und effizienter arbeiten. Die anderen, kleineren Betriebe bleiben auf der Strecke.

Die Lebensmittelindustrie inklusive Einzelhandel mit einem Gesamtumsatz von 1,4 Billionen Euro ist der größte Wirtschaftszweig. Lebensmittelgiganten wie Nestlé und Danone werden in Brüssel durch Food Drink Europe vertreten. So wollen die dänische ArlaFoods und die niederländische FrieslandCampina nicht nur in Deutschland, sondern auf den globalisierten Märkten auch außerhalb Europas Kunden gewinnen.

Neue Wachstumsmärkte in China

Zwar ist der europäische Markt längst gesättigt, doch die Landwirtschaft muss immer weiter wachsen. Warum ist das so? Um das Jahr 2000 seien der Agrarmarkt und Finanzmärkte liberalisiert worden, erklärt Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Grünen, im Interview mit dem Dokumentarfilmer Andreas Pichler.

Die europäische Agrarpolitik, die damals stark reglementiert war, sollte dem Weltmarkt geöffnet werden. Seitdem erhält der Landwirt Direktzahlungen und darf produzieren, was er will. Anstatt die die 13 Millionen in Europa zu unterstützen, investieren europäische Molkereien wie ArlaFoods und Danone in Asien. Damit erhöhen sie den Druck auf die Bauern in Europa.

Seit 1,3 Milliarden Chinesen auf den Geschmack von Milch gekommen sind, ist Milch in Asien zu einem gefragten Rohstoff geworden. Nach und nach sollen sich die Menschen in Asien an Milch gewöhnen. Denn, so versprechen die Konzerne, Milch macht sie größer, kräftiger und ausdauernder. ArlaFoods zum Beispiel erobert den chinesischen Markt mit Säuglingsnahrung.

Und ein spezielles Milchpulver soll die Beweglichkeit von Senioren in Hongkong stärken. Stets geht es dabei um die Interessen der Konzerne, ermöglicht ihnen doch der massenhafte globale Export ständiges Wachstum. Inzwischen stellt China auch eigene Milchprodukte her. So werden auf riesigen chinesischen Milchfarmen mehr als 10.000 Kühe gemolken.

Billiges Milchpulver zerstört Märkte in Afrika

Molkerei- und Nahrungsmittelkonzerne geben vor, die stetig wachsende Weltbevölkerung zu ernähren zu wollen. So exportieren europäische Konzerne billige Milchprodukte nach Guinea-Bissau, Senegal, Mauretanien, Kamerun, Ghana und Togo. Das rentiert sich vor allem wegen der niedrigen Einfuhrzölle – und weil Milch in der EU subventioniert wird.

Vor ihrer Ausfuhr wird die Milch zwecks besserer Lagerung energieintensiv zu Milchpulver verarbeitet. So stapeln sich in afrikanischen Supermärkten Joghurt, Milch und Milchpulver aus der EU. Hier greifen afrikanische Kunden lieber zu den billigen ausländischen als zu den teuren einheimischen Produkten.

Das treibt die einheimische Landwirtschaft in den Ruin. Denn Bauern in Afrika erhalten keine Subventionen. Sie haben die realen Kosten für die Herstellung ihrer Produkte zu tragen, die sie an ihre Kunden weitergeben müssen. So zerstören billige Import-Lebensmittel die Existenzen Tausender afrikanischer Kleinbauern, für die es besonders in ländlichen Gegenden schwierig ist, einen Absatzmarkt für ihre Milch zu finden.

Milchpulver hat in Kamerun inzwischen einen Marktanteil von 50 Prozent. Der Joghurt, der daraus hergestellt wird, kostet nur ein Drittel des Preises aus der heimischen Milch. Das Milchfett werde in Europa entzogen, um Futter daraus zu machen, dafür wird dem Milchpulver Palmfett zugesetzt, erklärt Francisco Mari, Referent Welternährung bei Brot für die Welt, im Interview mit dem ZDF.

Auch kleine Molkereien im Senegal, die Joghurt und Dickmilch herstellen, haben es schwer, ihre Produkte in der eigenen Region neben billiger Importmilch zu verkaufen. Dabei würde gerade der Bau von Molkereien in Afrika neue Arbeitsplätze schaffen. Die Menschen hätten wieder eine Perspektive – und weniger Grund, nach Europa auszuwandern.

Riesige Mengen an Milchpulver bereiten auch Politikern in Europa Kopfzerbrechen: Seit 2015 haben sich in der EU 380.000 Tonnen Milchpulver angesammelt, 66.000 Tonnen davon lagern in Deutschland. Das Pulver war damals aufgekauft worden mit dem Ziel, die sinkenden Milchpreise zu stabilisieren.

Allerdings sind die Preise für Milchpulver inzwischen drastisch eingebrochen. Nun wird die EU das Pulver nicht ohne Verluste wieder verkaufen können.

Kannibalisierung des Agrarsektors

Die Bauern fressen sich gegenseitig auf. Rücksichtlos werde das Land des Nachbarn aufgekauft oder gepachtet, kritisiert der EU-Abgeordnete Martin Häusling. Doch auch Bauern sind nur Menschen. Bringt man ihnen und ihrer Arbeit keine Wertschätzung entgegen, verlieren sie Haus und Hof.

Dann sehen viele in ihrem Leben keinen Sinn mehr. Das zeigt die wachsende Selbstmordrate unter EU-Bauern: In Frankreich sterben jährlich etwa 200, die Dunkelziffer liegt bei 600, in Deutschland sterben 500, auch hunderte belgische und italienische Bauern nehmen sich aus Verzweiflung das Leben.

Unlängst gedachten Abgeordnete in Brüssel der Selbstmörder in einer Schweigeminute. Dass die Todesfälle etwas mit ihrer Politik zu tun haben könnten, wird den wenigsten in den Sinn gekommen sein. Stattdessen proklamieren die Lobbyisten der Lebensmittelkonzerne und deren Vertreter gnadenlos Wachstum und Wettbewerb in der Landwirtschaft. Ändert sich nichts an ihrer Politik, werden wohl noch viele Bauern freiwillig in den Tod gehen.

Zeit für eine echte Agrarreform

Die export- und wachstumsorientierte Landwirtschaft beschert zwar dem Handel und der Lebensmittelindustrie satte Gewinne, so Martin Häusling, den Bauern aber sichert sie keinerlei angemessenes Einkommen. Der Grünen-Politiker sprach sich schon vor einem Jahr dafür aus, das Zahlungssystem bis spätestens 2034 umzubauen. Die Förderung zu tiergerechteren Haltungssystemen müsse schrittweise angepasst und die Weidehaltung ausgebaut werden.

Die gemeinsame Agrarpolitik (GAP), die seit 1962 die Landwirtschaft in Europa regulieren soll, ist aus ökologischer und sozioökonomischer Sicht komplett gescheitert. Zu diesem Schluss kommen Ökonomen, Soziologen und Ökologen, die in einer Studie die Agrarpolitik auf ihre Wirtschaftlichkeit und globale Nachhaltigkeit bewerteten.

So erhöhen zwar die Flächenprämien die Einnahmen von Agrarbetrieben, tragen aber wenig zum Lebensstandard der Landwirte bei. Das liegt vor allem an der ungleichen Verteilung der Gelder: Laut Olaf Tschimpke vom NABU bekommen zwei Prozent aller Betriebe 33 Prozent aller EU-Agrarsubventionen. Achtzig Prozent aber erhielten für den ganzen Betrieb weniger als 5.000 Euro im Jahr.

Besonders für Kleinbauern in der EU ist die Unterstützung gänzlich unzureichend. Diese Ungleichheit ist auch ein Grund für den zunehmenden Bevölkerungsschwund in ländlichen Räumen.

Darüber hinaus kritisieren die Wissenschaftler die wachsende Abhängigkeit von Fördergeldern, beeinflusst sie doch Produktionsentscheidungen und verringert die Effizienz der Betriebe. Würden die Zahlungen plötzlich eingestellt, erklärt Martin Häusling, könnte kein Milchbauer mehr überleben.

Auch der Verlust der Artenvielfalt kann mit dem herrschenden System weder gestoppt, noch kann die Nitratbelastung des Grundwassers verringert werden. Das so genannte Greening ist kaum wirksam. Was Europa braucht, ist eine nachhaltige Ernährungs- und Landnutzungspolitik.

Dafür müssten Treibhausgase in der Tierhaltung und bei Düngemitteln wirkungsvoll verringert werden. Die gesamte Landwirtschaft – nicht nur in Europa – muss sich zu einem widerstandsfähigen System entwickeln, in dem Artenschutz und die Erhaltung von Biotopen oberste Priorität haben.

Tipp:

Das System Milch (Trailer)

Autor : Susanne Aigner 

Link : https://www.heise.de/tp/features/Unsere-Ueberschuesse-machen-uns-kaputt-4001364.html

Photo :

Melkkarussel. Bild: © Thomas Fries / CC BY-SA 3.0 DE

Melkkarussel. Bild: © Thomas Fries / CC BY-SA 3.0 DE

Wohin mit den Essensresten?

Wohin mit den Essensresten?

Unsere Konsumgesellschaft wirft zu viel Essen weg. Es gibt Initiativen gegen die Verschwendung

Entlang der globalen Wertschöpfungskette gehen mindestens 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel verloren. Das sind 30 bis 40 Prozent, umgerechnet sind das 180 bis 190 kg pro Kopf und Jahr, rechnet eine Studie des WWF Deutschland von 2015 vor.

Allein in Deutschland landen mehr als 18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel jährlich im Müll. Das entspricht etwa einem Drittel des aktuellen Nahrungsmittelverbrauchs, der liegt laut WWF bei 54,5 Millionen Tonnen. Mehr als die Hälfte davon, nämlich zehn Millionen Tonnen, hätte man gar nicht wegwerfen müssen.

Demnach werden diese Nahrungsmittel unter hohem Arbeits- und Ressourcenaufwand hergestellt, bevor sie entlang der Wertschöpfungskette bis hin zum End-Konsumenten verloren gehen. Brot und Backwaren machen dabei einen Anteil von knapp zwei Millionen Tonnen aus, Obst und Gemüse jeweils 1,5 Millionen Tonnen, außerdem eine Millionen Tonnen Kartoffel- und Milcherzeugnisse.

Deutsche Endverbraucher verursachen fünf von rund zehn Millionen Tonnen vermeidbaren Lebensmittelabfällen. Aber auch die Großverbraucher im Einzel- und Großhandel produzieren rund fünf Millionen Tonnen für den Müll. Während die Ursachen in den so genannten Entwicklungsländern vor allem bei fehlender Infrastruktur für Ernte, Transport und Lagerung liegen, werden Lebensmittel in den Industrieländern eher am Ende der Wertschöpfungskette zu Abfall, oft auch nur deshalb, weil sie den Normgrößen oder der Ästhetik nicht entsprechen.

Negative Effekte für Klima und Menschen

Von derzeit 7,32 Milliarden Menschen weltweit hungern rund eine Milliarde und das, obwohl wir heute schon Lebensmittel für 12 Milliarden Menschen produzieren. Menschen in der südlichen Hemisphäre verzichten auf Essen, weil es in reiche Industrieländer exportiert wird oder weil auf den wenigen fruchtbaren Ackerböden Futterpflanzen für europäische Nutztiere angebaut werden.

Liegen die Importprodukte in europäischen Supermärkten zu lange in den Regalen, wandern sie in die Müllcontainer. Vereinfacht gesagt: Für unseren Überfluss müssen andere hungern. Damit ist die alltägliche Lebensmittelverschwendung eines der ungelösten Probleme des globalisierten Kapitalismus.

Doch Nahrung, die umsonst produziert wird, setzt enorme Mengen an Treibhausgasen frei. So rechnete oben erwähnte Studie den Klimafußabdruck für zehn Millionen Tonnen produzierter Lebensmittel auf rund 22 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente um. Mit eingerechnet sind die Treibhausgase, die bei der Düngung, beim Transport, bei der Lagerung, Kühlung und Weiterverarbeitung bis hin zur Entsorgung entstehen.

Sie verursachen global gesehen einen Flächenfußabdruck von 2,6 Millionen Hektar. Außerdem setzen natürliche Habitate, werden sie zu Ackerland umgebrochen, erhebliche Mengen an Kohlendioxid frei. Würden die Lebensmittel, die später in der Tonne landen, gar nicht erst produziert, ließen sich 26 Millionen Tonnen Kohlendioxid einsparen.

Der Müllforscher Timothy Jones, der in der Doku Taste the waste von Valentin Thurn zu Wort kommt, untersuchte die Auswirkungen von Essensmüll auf riesigen Deponien in Nordamerika. Tief verborgen unter anderem Müll zersetzen Bakterien die organische Masse. Dabei produzieren sie Methan, welches in die Atmosphäre gelangt und hier als Treibhausgas 23 Mal stärker wirkt als Kohlendioxid. Somit hat allein der Lebensmittelmüll einen Anteil von 15 Prozent an den globalen Methan-Emissionen.

Krummes Gemüse ist essbar

Alles, was nicht den Normen des Handels entspricht, wird aussortiert – oft bereits auf dem Acker, im besten Fall noch an Tiere verfüttert. Meist endet es im Kompost, im Müll, oder auch schon mal – wie bei Brot mit seinem hohen Heizwert – im Ofen. Weil es zu krumm, unförmig, zu klein oder zu groß ist, schaffen es 30 bis 40 Prozent der Gemüse-Ernten nicht in den Handel. Das betrifft auch Bio-Gemüse.

Dabei sind Kartoffeln mit sonderbarem Aussehen, leichten Druckstellen oder Verfärbungen genauso essbar wie “normale” Kartoffeln. Oft seien die Fehler am Gemüse gar nicht sofort zu sehen, erklärt Jungunternehmer Georg Lindermair. Das veranlasste ihn dazu, im Frühjahr 2014 mit Freunden in München ein kleines Unternehmen zu gründen: Gemüsekisten werden mit aussortiertem Bio-Gemüse direkt vom Acker aus dem Münchner Umland befüllt und versendet. Beigefügt sind Rezeptideen zum Kochen, zum Beispiel mit Rettich und Pastinaken.

Ausschließlich aussortierte Lebensmittel werden auch in dem Kölner Laden The good food angeboten. Die Gründerin Nicole Klaski und ihr Team holen im Kölner Umland all jenes Gemüse von den Bio-Äckern, das der Handel ablehnt: frische Gurken, Tomaten oder Rote Beete. Wenn zu viel Salat gewachsen ist, wird er direkt vom Feld geerntet.

Auch Backwaren vom Vortag, Bier in Flaschen – oder Brotaufstriche in Gläsern – gespendet von Einzelhändlern finden im Laden ihre Abnehmer. Bei allen Produkten ist das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten. Die Kunden zahlen nach Selbsteinschätzung. So profitieren auch Menschen mit geringem Budget, während andere großzügig spenden.

Schnippeldisko und Foodsharing

In der Schnippeldisko – eine Initiative der Slowfood-Bewegung – wird nur mit Lebensmitteln gekocht, die übrig sind. Dem Slow Food Youth Netzwerk gehören bundesweit zahlreiche Gruppen an. Die Aktivisten fahren auf einen Hof, sammeln krummes aussortiertes Gemüse ein und verarbeiten es bei Disko-Musik. Die Lebensmittel müssen “gut, sauber und fair” sein, so die Philosophie. Demnach erhalten die Erzeuger eine faire Entlohnung für ihre Produkte und Arbeit. Die Idee der Schnippeldisko hat sich über Europa hinaus bis hin nach Südkorea verbreitet.

Auch Foodsharing rettet Essen vor dem Müll. Gegründet wurde das Netzwerk 2013 von Filmemacher Valentin Thurn und Lebensmittelretter Raphael Fellmer. Und das funktioniert so: Wer Lebensmittel übrig hat, legt diese in einen digitalen Essenskorb Die Standorte mit Adresse sind auf einer Karte im Netz eingetragen.

So genannte Fair-Teiler verteilen übrig gebliebene Lebensmittel, Foodsaver holen Lebensmittel von kooperierenden Betrieben ab. Sie behalten so viel ein, wie sie selber brauchen, der Rest wird auf der Website angeboten bzw. an Tafeln, Suppenkuchen oder andere gemeinnützigen Vereine verteilt. So spart ein Betrieb nicht nur Entsorgungskosten, sondern übt verantwortungsvollen Umgang mit Essen.

Der Erfolg misst sich an der wachsenden Beteiligung: 3.100 Kooperationspartner und 24.000 Freiwillige in Deutschland, Österreich und der Schweiz holen in täglich mehr als tausend Betrieben Lebensmittel ab. Auf diese Weise wurden 7,5 Millionen Kilogramm Lebensmittel gerettet – 7500 Tonnen, die andernfalls im Müll gelandet wären.

Mülltaucher am Rande des Konsums

Landauf, landab begegnen die Betreiber von Supermärkten einem relativ neuen Phänomen mit Ratlosigkeit: Menschen betreten in der Abenddämmerung Supermarkt-Gelände und holen verpackte, genießbare Lebensmittel aus den Containern. Manchmal werden diese “Mülltaucher” verklagt – wie zum Beispiel im Januar 2014 in einer nordhessischen Kleinstadt – weil sie fremdes Grundstück betreten und fremdes Eigentum stehlen.

Damals wurden Studenten verdächtigt, Lebensmittel aus der Mülltonne einer Tegut-Filiale gestohlen zu haben. Dafür mussten sie sich vor Gericht verantworten. Interessanterweise argumentierte der Richter, mit dem Wegwerfen der Lebensmittel sei das Eigentum daran aufgegeben. Vor dem Gesetz gilt der Entsorger eigentlich solange als Eigentümer, bis sein Müll abgeholt wird.

“Wären Supermärkte wirklich an den Bedürfnissen von Menschen interessiert”, erklärte eine Studentin, “würden diese ihre überflüssigen Lebensmittel allen Menschen zur Verfügung stellen”. Freigesprochen wurden sie nur deshalb, weil die Herkunft der im Auto gefundenen Lebensmittel nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte.

Tatsächlich spenden viele Supermärkte abgelaufene Lebensmittel an die Tafeln, deren Anzahl in Deutschland stetig wächst. Denn: immer mehr Menschen haben immer weniger Geld, um sich genügend zu essen zu kaufen. Aussortiertes Essen kommt dann wenigstens dorthin, wo es gebraucht wird. Das mildert die Symptome der Armut, ihre Ursachen beseitigt es nicht.

Politik und Eigeninitiative gefragt

Wie reagiert die Politik auf das Verschwendungsproblem? Der französische Senat verabschiedete vor gut einem Jahr ein Gesetz, das das Wegwerfen von Lebensmitteln eindämmen soll. So sind Supermärkte ab 400 Quadratmetern Verkaufsfläche dazu verpflichtet, unverkaufte Waren billiger abzugeben. Außerdem müssen sie Abnahmeverträge mit gemeinnützigen Organisationen für restliche, zum Verzehr geeignete Lebensmittel abschließen. Immerhin.

Von Seiten der deutschen Regierung gab es bisher über die Erfassung von Daten hinaus kaum ernsthafte Versuche, der Verschwendung einen Riegel vorzuschieben. Noch fehlen gesetzliche Regelungen zum sinnvollen Umgang mit übrig gebliebenen Lebensmitteln in Supermärkten. Initiativen wie das Aktionsbündnis Aktion Agrar, BUNDJugend, Foodsharing und Slow Food Youth fordern einen Wegwerfstopp für Lebensmittel auch in Deutschland.

Stattdessen ermahnt das Umweltbundesamt die Verbraucher, die Vorräte zu sichten und planvoll einzukaufen. Wie man Lebensmittelreste zu Hause am besten vermeidet, weiß auch das Bundesministerium für Landwirtschaft.

Essensabfälle zu Hause zu vermeiden, ist schon aus Geldgründen sinnvoll. Denn wer weniger wegwirft, muss weniger einkaufen. Auch im Hinblick auf krummes Gemüse kann das eigene Einkaufsverhalten den Markt beeinflussen: Wer anstatt zu in Plastik verpackter, zu loser Ware greift, kann sich Größe, Gewicht und Form selber aussuchen. Besitzer von Smartphones können seit kurzem mittels einer App herausfinden, in welchen Geschäften und Restaurants in ihrem Wohnort Lebensmittel übrig sind. Diese können sie dann dort preiswert abholen.

Filmtipps:

Taste the waste (2014)

Die Essensretter (2016)

von : Susanne Aigner

unter : Telepolis / Wirtschaft / Wohin mit den Essensresten?

Buchempfehlung

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Alte Apfelsorten schützen von Allergiesymptomen

Alte Apfelsorten schützen von Allergiesymptomen

Bei Golden Delicious und anderen Supermarktprodukten weggezüchtete Polyphenole sorgen dafür, dass das Obst beschwerdefrei verspeist werden kann

Eine Allergie auf Äpfel ist in Deutschland die häufigste Obstunverträglichkeit. Sie ist im Regelfall eine Kreuzreaktion auf eine Birkenpollenallergie, die entsteht, wenn Immunglobulin E-Antikörper das Apfelprotein Mal d 1 mit dem Birkenpollenallergen Bet v 1 “verwechseln”. Werden Äpfel versaftet oder zu Kompott, Kuchen oder Gelee verarbeitet, dann fällt die allergische Reaktion darauf häufig deutlich weniger stark aus. Manche Allergiker machten allerdings auch die Feststellung, dass sie einige Apfelsorten roh essen können, ohne dass die Mundschleimhaut zu jucken anfängt.

Bei diesen Sorten handelt es sich meist um ältere Sorten aus privaten Gärten. Äpfel aus dem Supermarkt oder der Obsthandlung lösen dagegen in den meisten Fällen auch dann eine Reaktion des Immunsystems aus, wenn es sich um Bio-Obst handelt. Das liegt der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft zufolge daran, dass es sich auch bei Bio-Tafeläpfeln meist um Sorten handelt, in denen man durch Zucht den Anteil an Gerb- und Bitterstoffen sowie an Polyphenolen verringert hat, damit sie süßer schmecken und damit sich ihr Fruchtfleisch nicht bräunlich färbt.

Inzwischen hat man jedoch herausgefunden, dass die weggezüchteten aromatischen Verbindungen mit ringgebundenen Hydroxygruppen dafür sorgten, dass das Kreuzallergenprotein im Apfel beim menschlichen Verzehr deutlich weniger Probleme verursacht. An der Universität Wageningen züchtete man deshalb die Apfelsorte Santana, die von 50 bis 70 Prozent der leichten Apfelallergiker vertragen wird. Santana-Äpfel haben jedoch den Nachteil, dass sie recht leicht verderben und deshalb nur vom Oktober bis in den Januar verkauft werden. Länger halten soll die ganz neue Anti-Allergie-Sorte Elise.

Wer einen Garten zur Verfügung hat, der kann auch Zweige alter Apfelsorten auf seine Bäume okulieren oder pfropfen. Geeignet sind zum Beispiel die angenehm säuerlich schmeckenden Boskop-Lederäpfel, die lange haltbaren Altländer Pfannkuchen, grüne Ontarioäpfel, rote Gravensteiner, weiße Klaräpfel, Glockenäpfel oder Reinetten.

Deutschlandweit gibt es mittlerweile zwischen Sörup und Wyhl über 40 Obstbaumschulen, die weiterhelfen, wenn man alte Sorten züchten will. In Österreich bieten die Baum- und Rebschule Schreiber in Poysdorf, das Praskac-Pflanzenland in Tulln, die Bio-Baumschule Artner im Waldviertel und die Arche Noah in Schiltern Dienstleistungen dazu an. Wer in der Schweiz lebt, der kann sich beispielsweise an die Stiftung für die kulturhistorische und genetische Vielfalt (ProSpecieRara) in Basel oder an die Vereinigung zur Förderung alter Obstsorten (Fructus) in Wädenswil wenden. In Luxemburg hat sich der Verein natur&ëmwelt die Förderung historischer Obstsorten zur Aufgabe gemacht. Und in Südtirol baut das Versuchszentrum Laimburg gerade eine Datenbank mit 400 alten Apfelsorten auf.

Source : http://www.heise.de/tp/artikel/40/40102/1.html

Von Peter Mühlbauer in Telepolis > Wissenschaft > Gesundheit